Motor, Getriebe, Fahrwerk — mehr als hundert Jahre lang waren das die Kernelemente eines Automobils. Bei Mercedes übernimmt nun ein Gebilde aus gebogenem Glas diesen Part. »Das ist der intelligenteste Bildschirm, der bislang in einem Auto zum Einsatz kommt«, sagt Ola Källenius, Chef des Mutterkonzerns Daimler. Gern hätte er wohl auch vom größten Monitor der Autowelt geschwärmt, doch dieser Superlativ gehört aktuell dem Bildschirm des chinesischen Prototyps Byton M-Byte (Maße: 1,25 Meter mal 25 Zentimeter).
Das Glaskonstrukt von Mercedes ist zwar breiter (1,41 Meter), doch darunter stecken insgesamt drei kleinere Monitore. Hyperscreen nennen die Schwaben das neue Bauteil, das jetzt auf der Technologiemesse CES vorgestellt wird. Im zweiten Halbjahr 2021 soll es in der Elektrolimousine Mercedes EQS erstmals auf den Markt kommen, als »Gehirn und Nervenzentrum des Autos«.
Die Bildschirmexzesse sind ein weiterer Beleg dafür, dass Innovationen im Auto zunehmend aus der digitalen Welt stammen und im Innenraum zu finden sind. »Wir beobachten schon seit einiger Zeit, dass etwa die Antriebsleistung eines Autos für die Kaufentscheidung immer weniger relevant wird, während die digitalen Funktionen und die Innenraumgestaltung für die Kunden wichtiger werden«, sagt Timo Möller, Leiter des »Center for Future Mobility« der Unternehmensberatung McKinsey. So sieht es auch Han Hendriks, Technikvorstand des chinesischen Zulieferers Yanfeng Technology: »Der Innenraum gewinnt zusehends an Bedeutung und ist ein wichtiger Faktor bei der Kaufentscheidung.«
Fachleute sprechen vom Auto als dem »third place«, also dem dritten Ort nach Wohnung und Arbeitsplatz, an dem viele Menschen regelmäßig viel Zeit verbringen. Diese Zeit soll künftig gewinnbringend genutzt werden.
Die Frage, wie stark ein Auto digitalisiert sein müsse, beantworten Kunden je nach Region und Alter ganz unterschiedlich, sagt McKinsey-Mann Möller. Jüngere wollen mehr Digitales als Ältere, Chinesen mehr als Europäer. Grundsätzlich aber wolle niemand mehr in ein Auto steigen und ein »digitales Downgrading« erleben, also etwa keine Musik vom Smartphone hören können.
Es sind allerdings nicht nur Kunden, die auf größere Bildschirme und mehr elektronische Spielereien im Auto abfahren. Vor allem erkunden Autohersteller, Zulieferer, Techkonzerne oder Versicherungen neue Geschäftsmodelle, um Umsatz und Gewinn zu steigern.
Das goldene Versprechen der Digitalisierung
Ein zusätzliches Geschäftspotenzial von bis zu 500 US-Dollar pro Auto hat McKinsey in einer Studie anlässlich der CES ermittelt, die am Montag (11. Januar) aufgrund der Corona-Pandemie erstmals als reine Onlineveranstaltung startet. »Dazu gehören zusätzliche Umsatzmöglichkeiten, etwa durch Over-the-air-Updates [kabellose Systemaktualisierungen] ebenso wie Einsparpotenziale für Hersteller, weil mit Nutzungsdaten aus den vernetzten Fahrzeugen künftige Modelle viel genauer auf Zielgruppen zugeschnitten werden können«, erklärt Möller.
Kein Wunder, dass Hersteller all die neuen Apps, Vernetzungen und Kaufgelegenheiten im Auto – etwa über neue Bildschirme – in schillernden Farben anpreisen. Auch Continental tüftelt an einer raffinierten Optik im Auto: Der Zulieferer aus Hannover setzt auf 3D-Bilder, die alle Insassen im Fahrzeug ohne Spezialbrille oder andere Hilfsmittel wahrnehmen. Auf der CES wird der Konzern einen weiteren Entwicklungspartner vorstellen, der hilft, die Technik zur Serienreife zu bringen. Bisher hat Conti diese Technologie mit dem US-Start-up Leia entwickelt.
Und was soll das bringen mit den 3D-Darstellungen? Vor allem geht es um den Wow-Effekt, wenn plötzlich ein Gebäude aus dem Navigationsbildschirm bildlich herauswächst. Continental strebt auch mehr Sicherheit an – so schwebt ein virtuelles Stoppschild grell leuchtend vor der Armaturentafel und mahnt zum Bremsen.
Wer lenkt, wenn so vieles ablenkt?
Überwiegend sollen die neuen Elektronikkomponenten zwei scheinbar unvereinbare Dinge gleichzeitig ermöglichen: Lenken und Ablenkung im Auto. Also ersinnen Ingenieurinnen und Ingenieure bessere Sprachsteuerungen, Gestensteuerungen, Touchflächen oder Sensoren für Augenbewegungen. Nur so lassen sich die vielfältigeren Optionen überhaupt noch bedienen, während es mit Tempo 50 durch die Stadt oder mit 150 über die linke Spur geht.
BMW etwa gibt während der digitalen CES einen Ausblick auf das neue Bediensystem des Elektroautos iX, das 2021 auf den Markt kommen soll. Der zum Samsung-Konzern gehörende US-Zulieferer Harman stellt eine Spielekonsole fürs Auto vor, die das Handydaddeln auf längeren Fahrten ersetzen soll. Dazu gibt es ein Lautsprechersystem – entwickelt mit dem deutschen Zulieferer Grammer – das aus den Kopfstützen ausklappt und ein voluminöses Klangerlebnis bieten soll.
Aus Fahrzeit wird Konsumzeit
Derlei Innovationen ließen sich als pure Spielerei abtun. Doch solange die Zahl der Autos weltweit weiter steigt, wächst das Verkehrsaufkommen. Menschen verbringen mehr Zeit im Auto. Videospiele oder »Drive-Live-Concerts« (so der Name der Harman-Neuheit) versprechen Abwechslung im Stau. Erst recht, wenn Autos zunehmend automatisch fahren und der Fahrer sich zurücklehnen kann.
Der elektrische Mercedes EQS erhält nicht zufällig den neuen Hyperscreen. Das Auto wird wohl autonomes Fahren auf Level 3 bieten, bei dem der Mensch hinterm Lenkrand sich zeitweise anderen Tätigkeiten als dem Fahren widmen kann. Der Screen, so hieß es bei der Präsentation, verfüge über künstliche Intelligenz und schlage je nach Situation Sitzmassageprogramme oder To-do-Listen vor. Etwa mit Geburtstagserinnerungen assistiert der neunmalkluge Monitor zerstreuten Fahrern. Warum sollten die sich da noch für Motoren interessieren?
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