Album der Woche:
Nicht nur als überarbeiteter Pop-Kritiker möchte man dieser Tage vielen Künstlerinnen und Künstlern zurufen: Ist ja schön, dass ihr im Lockdown alle so wahnsinnig kreativ wart, aber Himmel, EIN Album pro Jahr reicht völlig! Insbesondere gilt das für die US-Sängerin Lana Del Rey, die erst im März das ganz hervorragende »Chemtrails Over The Country Club« veröffentlichte. Damit hatte sie es all ihren zahlreichen Kritikern eigentlich so richtig gezeigt, aber, seufz, kurz darauf kündigte die 36-jährige Americana-Pop-Songwriterin bereits das nächste Album an, das am 4. Juli erscheinen sollte, Independence Day, Blockbuster-Tag.
Auf Instagram lockte Lana: Wer sich für ihre wahre, echte Geschichte interessiere, könne sich schon freuen, ihre achte Platte handele nämlich von nichts anderem. Und nun ist »Blue Banisters« also mit mehrmonatiger Verspätung endlich da. Man hat ehrlicherweise nicht unbedingt darauf gewartet. Denn nichts ist ja langweiliger, als wenn sich eine Pop-Schaffende, die ihre Karriere mit nostalgisch vernebelter, düster romantischer Rollenprosa bisher sehr gut bestritten hat, plötzlich der Authentizität zuwenden will. Oder gar rachsüchtig ihre Kabbeleien mit der Presse aufarbeiten? Sollte »Blue Banisters« ein Battle-Rap-Album werden?
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Aber zum Glück war das alles wohl nur ein Täuschungsmanöver. Entwarnung: Wenig ist hier eine Offenbarung, mindestens drei Songs stammen sogar von 2012, sie schrieb sie einst mit ihrem Ex-Freund Barrie-James O’Neill, fand dann aber keine Verwendung dafür. Bis sie jetzt auf dieser mit allerlei Ramsch gefüllten Resterampe landeten.
Angenehm ist allerdings, dass Jack Antonoff diesmal nicht seine viel beschäftigten Produzentenfinger im Spiel hatte. Zuletzt gab es angeblich ein wenig Verstimmung zwischen Lana und ihrer ebenfalls von Antonoff betreuten Kollegin Lorde über gewisse melodische Ähnlichkeiten zwischen Songs der beiden. Jetzt werkelten unter anderem Arctic-Monkeys-Produzent Zach Dawes und Mike Dean (u.a. Kanye West) an den Songs herum. Viel mehr als hier mal ein Rauschen, dort mal ein paar leise Streicher reinzudrehen, mussten sie jedoch nicht tun: Eine reduzierte, musikalisch nicht sehr interessante, aber aufreizend zeitlupenhafte Pianoballade folgt auf die nächste, ab und zu gibt’s mal eine Gitarrenballade mit ein bisschen Country-Twang, dann wieder, richtig, eine Pianoballade. Alles will geheimnisvoller und bedeutungsschwangerer wirken, als es in Wahrheit ist.
Halten denn wenigstens die Texte, was Lana versprach? Jein. Unapologetisch romantisiert sie weiterhin jene jungen Burschen – einer mit einem Ford Thunderbird (»Textbook«), ein anderer mit Alkohol- oder Drogenproblemen (»Dealer«, »Thunder«) –, die sie einst bitter enttäuscht oder mies behandelt haben.
Manches ist sehr schön und lyrisch, etwa wenn Del Rey in »Violets For Roses« in einen nahezu perfekten Pop-Refrain haucht: »God knows the only mistake that a man can make/ Is tryin' to make a woman change and trade her violets for roses«. Lieber Veilchen als Rosen? Darauf kann sich jeder seinen eigenen Reim machen. Lana Del Rey lebt den Blues und pinselt ihre Welt blau, sogar die Geländer ihrer Veranda im Titelsong. Trübsal als Lebenseinstellung, das ist doch sympathisch.
Verstehen aber viele irgendwie falsch, glaubt Lana, daher drückt sie in der ganzen Blaumalerei manchmal ein bisschen zu sehr auf die Tube. Im Schlüsselstück »Beautiful« zum Beispiel vergleicht sie sich mit Picasso. Stellt euch mal vor, jemand hätte dem alten, biestigen Meister verboten, traurig zu sein, erklärt sie im Text, vielleicht hätte es dann seine »Blaue Phase« nie gegeben! Also soll man mal lieber auch nicht an ihrer Melancholie rütteln. »Lets keep it simple, babe/ Don't make me complicated/ Don't tell me to be glad when I'm sad«, singt sie. Und: »Let me show you how sadness can turn into happiness/ I can turn blue into something«.
»Lächel doch mal«, der ultimative Triggersatz für Feministinnen, ist für sie also wahrscheinlich ein Trennungsgrund, fair enough. Umso verblüffender ist es, sie in den Videoclips zu »Blue Banisters« und »Arcadia« dann auf einmal ganz gelöst lachen zu sehen – ein so seltener Eindruck von Lana Del Rey, dass es fast wie ein Schock wirkt.
Apropos Schock: Schon auf »Chemtrails« experimentierte die Sängerin bereits charmant mit ihrer Stimme, jetzt allerdings treibt sie’s auch dabei ein bisschen weit, wenn der Gesang im ohnehin merkwürdig verstolperten »Black Bathing Suit« plötzlich schrecklich leiert – obwohl sie gerade noch behauptet hat, wie ein Engel zu singen. Bei ihrem nicht minder irritierenden Gejaule in »Thunder« möchte man sich am liebsten die Ohren zuhalten. Vielleicht ein ironischer Gruß an ihre beiden Hunde Tex und Mex, mit denen sie auf dem Plattencover posiert? Ach, was weiß man schon.
Nicht viel mehr als vorher über diese immer wieder herausfordernde Künstlerin. Und das ist vielleicht das Beste, was man über ihr unnötiges neues Album sagen kann. (5.5)
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Kurz abgehört:
Elton John – »The Lockdown Sessions«
Eine Coverversion des runtergenudelten »Nothing Else Matters« von Pop-Göre Miley Cyrus, Star-Cellist Yo-Yo Ma, Chili-Peppers-Drummer Chad Smith, Metallica-Bassist Robert Trujillo und, nun ja, Elton John (den man neben Cyrus' Röhre kaum raushört) klingt genauso anstrengend, wie es sich hier liest. Und auch das »It’s A Sin«-Remake mit Years & Years ist eine Sünde, »Cold Heart« opfert »Sacrifice« und »Rocket Man« mit Dua Lipa auf dem Disco-Altar. Unfreiwillig komisch wird’s dann bei den Knödelduellen mit Eddie Vedder oder Stevie Nicks: »I looove like a stolen car«? What does it even mean? Sie merken schon, die ganz lieb gemeinten »Lockdown Sessions«, die der 74-jährige Sir Reginald mit Rap-Stars wie Lil Nas X oder Nicki Minaj sowie ranghohen Pop- und Rock-Größen per Fernsteuerung zusammengeklebt hat, sind mit Vorsicht zu genießen. Das allererste Duett zwischen Elton John und Stevie Wonder im überschwänglichen Soul von »Finish Line« muss jedoch entwaffnen. Und auch das Bekenntnis zur diversen, selbst gewählten Friendship-Familie mit Rina Sawayama (»Chosen Family«) berührt. Aber… puh. (3.0)
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Parquet Courts – »Sympathy For Life«
»Wie viele Arten, mich lausig zu fühlen, habe ich schon gefunden in New York?« Überblick verloren. So bei sich, fest installiert in einen euphorischen Fatalismus-Groove und genervtes Großstadt-Gemecker über Gentrifizierung, klangen die Parquet Courts in »Walking at a Downtown Pace« noch nie. Die schwungvolle Post-Punk-Hymne eröffnet das siebte Album der Band aus Brooklyn und setzt den gewohnten Rumpel-Rhythmus. Aber es gibt auch Raum für Experimente: »Marathon of Anger« oder »Plant Life« strecken sich mit Elektro-Dub und Afrobeat nach den Talking Heads, wo sonst eher der Agitprop-Funkpunk von Primal Scream Pate steht. Zum Glück kein Lockdown-Album, sondern impulsive, elektrisierende Energy-Shots, die einen wieder in den richtigen Tritt setzen (oder Trott, je nachdem). (7.7)
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Circuit Des Yeux – »-io«
Achtung, Pop-Didaktik: Für alle, die sich nach sechs Alben und zwei Country-Experimenten als Jackie Lynn immer noch nicht merken können, wie sich der französische Künstlername der US-Musikerin Haley Fohr ausspricht, gibt sie im Booklet noch mal eine lautsprachliche Anleitung (»sir-CUT Deh-z y-uu«), verknüpft mit Anleitungen fürs richtige Hörerlebnis ihres gewaltigen Kammerpopalbums »-io«: Duftkerze an, Vorhänge zu, am besten, man bleibt allein und starrt die Decke an, wenn Fohr mit tief dramatischer Bariton-Stimme über Wintervorbereitungen singt oder das Verschwinden (»Vanishing«). Das ist noch härterer, opernhafterer, depressiverer Stoff als ihr letztes Album »Reaching For Indigo«, und das war schon extrem. Sie habe sich im Lockdown intensiv mit schwarzen Löchern beschäftigt, sagt Fohr, entsprechend viel Gravitas und Sogkraft haben ihre für Orchester geschriebenen Abhandlungen über die allerletzten Dinge. Kein Wunder, dass sie rät, spätestens nach dem mit Streichern und Wagnerchören zu höchster Verzweiflung anschwellenden Mittelstück »Sculpting The Exodus« mal eine Pause einzulegen, ihr manchmal knapp am Kitsch vorbeischrammendes Opus Magnum sei schließlich »a novel, not a movie«. Die ganz, ganz dunkle Seite des Mondes. (8.2)
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Grouper – »Shade«
Die geisterhafte, betörende Musik von Liz Harris alias Grouper klingt auf ihrem zwölften Album, als hätte sich die blauselige Pop-Muse Lana Del Rey (siehe oben) auf eine Session mit den Slowcore-Künstlern von Low eingelassen, die man nun, in gefühlt sehr ferner Zukunft, auf einem schlecht erhaltenen Tape hört – oder in einer im Äther verwehenden Radioübertragung, oft hört man Harris' Stimme kaum unter all dem Rauschen und Hall. Die Kalifornierin singt aber auch eh so leise und entrückt, dass man den Inhalt der Texte erspüren muss. Es gehe in den zu Gitarre und Geräuschen arrangierten Songs, die sie über die letzten 15 Jahre hinweg schrieb, um die sich wechselseitig formende Beziehung von Körpern und Biografien zur Landschaft, sagt Harris – vor allem zur Pazifikküste, an der sie selbst lebt. Man fühlt sich beim Hören, als würde man aus größter Selbstversunkenheit und Isolation, dem Schattenreich der Seele, allmählich und zeitlupensanft wieder ins Diesseits zurückgerufen. (7.9)
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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)
Mittwochs um 23 Uhr gibt es beim Hamburger Webradio ByteFM ein »Abgehört«-Mixtape mit vielen Songs aus den besprochenen Platten und Highlights aus der persönlichen Playlist von Andreas Borcholte.
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