Was unterscheidet einen Rotmilan von einer Wolke? Von Biene, Flugzeug oder der Blattspitze eines Rotorblatts? Die Frage ist nicht so banal, wie sie klingt. Nicht, wenn Künstliche Intelligenz sie beantworten soll. Und wenn von der richtigen Unterscheidung abhängt, ob der Rotmilan, jagend den Blick auf den Boden gerichtet, von einem Windrad getroffen wird oder ob das passiert: Kameras entdecken den Vogel Hunderte Meter entfernt, die Maschine schaltet ab, die Rotorblätter trudeln aus, das Tier gleitet unbeschadet vorbei.
„Ereignisbezogene Abschaltung“. So heißt die Idee, auf die Artenschützer und Windparkbetreiber gleichermaßen hoffen. Radar- und vor allem Kamerasysteme sollen verhindern, dass Tiere und Windenergieanlagen kollidieren. International, besonders in den USA, Frankreich und Spanien, sind sie im Einsatz. In Deutschland erproben diverse Hersteller die Technik. Die Erwartungen sind hoch. Neben dem Schutz der Tiere geht es auch darum, Flächen für die Windkraft zu gewinnen, die bisher pauschal ausgeschlossen sind.
In Baden-Württemberg hat der Bürgerwindpark Hohenlohe im Sommer die Genehmigung bekommen, sein hauseigenes Projekt BirdVision im Realbetrieb zu testen, nachdem sich das Kamerasystem an acht Anlagen vielversprechend zeigte. Je sechs Industriekameras hängen ringförmig am Turm der Windräder und decken mit ihren Weitwinkelobjektiven ein Sichtfeld von 360 Grad ab. In flachem Gelände hängen sie in etwa sechs Meter Höhe. Steht der Windpark am Waldrand oder in hügeligem Gelände, können es 30 Meter sein. Sie erfassen Objekte in einem Radius von rund 250 Metern. Doch damit sie nicht den Windpark lahmlegen, wenn ihnen eine Biene vor die Linse schwirrt, braucht es ein Hirn: ein Deep-Learning-Netzwerk, eine neuronale Künstliche Intelligenz.
Weniger Einnahmen bei jeder Abschaltung
„In drei bis fünf Sekunden erkennt das Bildverarbeitungsprogramm, ob es sich um einen Vogel handelt“, sagt Benjamin Friedle. Er arbeitet beim Bürgerwindpark an BirdVision und versichert, dass Fehldeutungen inzwischen fast nicht mehr vorkommen. Vor zwei Jahren lag die Falsch-positiv-Rate noch bei zwölf Prozent. Die mag dem Rotmilan vielleicht egal sein, nicht aber dem Windparkbetreiber. Jede Abschaltung bedeutet: weniger Einnahmen. Der Server, der im Turm an der Schnittstelle zwischen Kameras und Anlagensteuerung liegt, berechnet inzwischen aber zuverlässig, ob es sich um einen Vogel handelt oder nicht. Etwa eine halbe Minute dauert es, dann trudeln die Rotorblätter so langsam, dass den Tieren keine signifikante Gefahr mehr droht.
Aber sind Windräder überhaupt die Schreddermaschinen, für die sie mancher Kritiker hält? So genau weiß das keiner. Die Brandenburger Vogelschutzwarte pflegt eine Datenbank – Gänsegeier, Mäusebussard und Rotmilan stehen unter den Schlagopfern europaweit ganz oben –, doch bei den Tieren handelt es sich meist um Zufallsfunde. Systematische Studien sind rar. Allein die Fläche ist riesig, die Wissenschaftler, oft in dichter Vegetation, nach verendeten Tieren absuchen müssen.
Es wird nicht nur nach Größenklassen unterschieden
Bundesweit betrachtet, gilt der Bestand als stabil. Ernst nehmen müssen Branche und Politik die Zahlen dennoch. Schließlich sind mehr Windräder geplant, zwei Prozent der Landesfläche will die mutmaßlich nächste Bundesregierung dafür ausweisen. Kamerabasierte Detektionssysteme könnten auch dabei helfen. Esther Clausen von der Firma BioConsult sagt, dass es in vielen Projekten zunächst darum gehe, die betroffenen Arten und ihr Verhalten zu erforschen – auch bevor ein einziges Windrad aufgestellt ist. Clausen hofft, dass das die Debatte sachlicher macht. Das norddeutsche Unternehmen entwickelt dazu gerade ebenfalls ein System, man stehe aber noch am Anfang.
Ein Ziel ist aber klar: Es soll Arten gezielt auseinander halten können und nicht nur nach Größenklassen unterscheiden. „Wir haben jetzt die Ornithologen draußen, die so viele Flugsequenzen wie möglich filmen“, sagt Clausen. Im Anschluss bauen sie eine KI darauf auf, indem Distinktionsmerkmale festgelegt werden. „Den Rotmilan erkennt man gut am gegabelten Schwanz. Aber auch an Größe und Habitat und daran, wie sich die Tiere verhalten und wie sie fliegen“, erklärt Clausen. „Ein Seeadler gleitet zum Beispiel viel mehr, der ist wie ein Brett in der Luft.“ Kosten im fünfstelligen Bereich kommen auf Betreiber zu, die ein Antikollisionssystem wollen, schätzt Benjamin Friedle von BirdVision. Die Investition könnte sich aber rechnen. Auch heute müssen Windräder immer wieder stillstehen, um das Risiko von Kollisionen klein zu halten. Zum Beispiel wenn die Tiere, die im Umkreis leben, brüten oder Landwirte ihre Felder mähen.
Offene Fragen bleiben aber
Das Nahrungsangebot in Stoppelfeldern ist für die Greifvögel zu verlockend. Einer Studie im Auftrag des Kompetenzzentrums Naturschutz und Energiewende (KNE) nach verlieren Betreiber 28 Prozent ihres Ertrags, wenn sie ihre Anlagen während der Brutzeit pauschal abschalten. Machen sie es nur dann, wenn ein Tier der Anlage tatsächlich zu nah kommt, sind es etwa acht Prozent. Die Technik hat sich in kurzer Zeit verbessert. Offene Fragen bleiben aber. Wie sehr schadet das ständige An- und Abschalten den Anlagen? Genügen die Reichweiten der Kameras, um zeitig für die konzentrierten Jäger abzuschalten? Funktionieren die Systeme, wenn Schnee, Nebel und dichter Regen der klugen KI die Augen zuhalten? Bevor es hierzulande überhaupt so etwas wie pauschale Zulassungen für die Systeme geben kann, zum Beispiel um auch dort Windräder genehmigen zu lassen, wo sie die Abstände, etwa zu Brutplätzen, unterschreiten, die das „Helgoländer Papier“ vorsieht, müssen sie sich noch gründlicher beweisen.
IdentiFlight hat sich bewiesen. In den USA ist es schon in Betrieb. Drei Jahre wurde das System nun an sechs Standorten in Deutschland erprobt. Drohnen, Laserentfernungsmesser und besenderte Rotmilane bildeten die Kontrollgruppe für alles, was IdentiFlight berechnete. Das Kamerasystem sitzt auf einem eigenen Turm im Windpark. Acht Weitwinkelkameras und eine bewegliche Stereokamera erfassen Rotmilane in 750, Seeadler in 1000 Meter Entfernung. IdentiFlight legt um jedes Windrad zwei virtuelle Zylinder an. Fliegt ein Vogel mit hoher Geschwindigkeit und in direktem Kollisionskurs, gibt es das Signal zum Abschalten, wenn sie den äußeren Zylinder erreichen, andernfalls am inneren. Das Signal zum Abschalten kam meist, aber nicht immer rechtzeitig, das haben die Tests gezeigt. Doch die Arterkennung funktioniert. Was fehlt, ist der Segen der Naturschutzbehörden.
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