Ist Berlin eigentlich noch sexy? In diesem Krimi dreht sich alles nur darum, wie der eine den anderen ins Bett zu bekommen versucht, aber der Lustgewinn bleibt bei allen Beteiligten offenbar sehr gering. Am Anfang sieht man, wie eine Jura-Studentin in der Nacht mit einem Pärchen chattet, das sie dann spontan aufsucht; am nächsten Morgen findet man ihre Leiche mit zerschlagenem Gesicht nahe dem zugefrorenen Engelbecken.
Sexuelle Handlungen werden in diesem »Tatort« kaum gezeigt, es geht eher um die Anbahnungen und Abfertigungen zwischen den, nun ja, Liebenden. Zur Bedienung von Dating-Apps wird übers Handy gewischt, nach vollzogenem Akt die Wohnung gefeudelt.
Mit einem Eimer Chlorbleiche durch die Schmuddelbutze
In einer Szene sieht man, wie ein Zwanzigjähriger seine Mutter in die eigene kleine Wohnung bestellt, damit sie dort den Schweinkram der letzten Nacht beseitige, weil der spontane Dreier mit der Freundin und einem Internet-Date arg ausgeartet sei. Handelt es sich bei der Netzbekanntschaft um jene Studentin, die man tot am Kanal gefunden hat? Der Vater geht später noch mal mit einem Eimer Chlorbleiche durch die Schmuddelbutze des Sohnes, sicher ist sicher, nicht dass sich da zwischen den Blut-und-Sperma-Resten noch irgendwas Belastendes findet.
Szene aus »Die Kalten und die Toten«: Man glaubt ständig, die Zähne klappern zu hören
Foto: Aki Pfeiffer / rbbIn einer anderen Szene freut sich die Betreiberin eines Swingerhotels, dass ihr Etablissement richtig gut laufe, seit man auf den Plüsch-, Spiegel- und Kerkerzimmern am Morgen nach der großen Vögelei auch noch ein leckeres Frühstück serviere. Die von der Managerin im Bett bediente Freundin, die hier allein genächtigt hat, rollt beim Biss ins knackige Croissant dann auch anerkennend die Augen, während durch die Wände das Gequieke der anderen Gäste zu hören ist, die noch mal eine Swinger-Frühschicht draufgelegt haben. Als Sound immerhin ist der Sex in diesem Film meist präsent.
Oder als Gesprächsgegenstand: In einer weiteren Szene wird man Zeuge, wie Kommissar Karow (Mark Waschke) die Kollegin Rubin (Meret Becker) fragt, ob sie in letzter Zeit mal bei der Ärztin gewesen sei. Weil: »Ich hab da so ein intimes Souvenir, einen Matrosen am Mast.« Eine Redewendung, die sich in der Seemannssprache auf Filzläuse bezieht, und Karow glaubt eben, sich solche bei einem One-Night-Stand mit der Kollegin eingefangen zu haben.
So viel Reibung, so wenig Wärme.
Dieser One-Night-Stand, Sie erinnern sich, hatte in der letzten »Tatort«-Episode aus Berlin stattgefunden, wo es um kalte Entmietungen und überhitzte Mietpreise ging, und wo sich Ermittlerin und Ermittler in einer ausgekühlten Wohnung zum Warmwerden im Stehen im Türrahmen ihre Körper aneinander rieben. Für den neuen Berliner »Tatort« haben die Verantwortlichen die Temperatur noch mal um ein paar weitere Grad runtergefahren; in dieser Folge taugt nicht mal das Thema Sex dazu, das Stimmungsthermometer hochzutreiben.
Christine Schroeder / Radio Bremen
Drehbuchautor Markus Busch hatte zuletzt den Drogenselbsterfahrungs-Trip des Dortmunder »Tatort«-Teams geschrieben, Regisseur Torsten C. Schmidt war für den Kölner »Tatort« mitverantwortlich, in dem ein Verbrechen aus DDR-Zeiten allein über komplizierte Gesprächskonstruktionen aufgeklärt wurde. Auch der neue Berliner Fall nimmt den einen oder anderen dramaturgischen Umweg, um von den Verwüstungen der vermeintlich unverbindlichen Sex-Arrangements zwischen Dating-App und Swingerhotel zu erzählen.
Ins Zentrum der Geschichte geraten zwei Familien, die nicht unterschiedlicher sein könnten: Zum einen die biederen Eltern des Opfers, denen nicht nur die Tochter genommen wurde, sondern auch ihre Vorstellung, wie diese Tochter so leben und lieben wollte. Zum anderen die Eltern des mutmaßlichen Täters mit der Schmuddelbutze, in deren Leben selbst alles um die Organisation der eigenen Gelüste geht. So viel Reibung, so wenig Wärme.
Busch und Schmidt erzählen trocken, sie finden starke, oft doppelbödige Situationen, um dieses Libido-Management ins Bild zu setzen. Dass die Eltern des mutmaßlichen Täters dann auch noch passionierte Taucher sind, die mit ihrem Verein Eisschollen aufschlagen, um unter Wasser zu gehen, ist des Allegorischen aber möglicherweise zu viel.
Brrr, man glaubt in diesem Berlin ständig die Zähne klappern zu hören. So blass sah Rubin übrigens noch nie aus, doch bald ist sie erlöst: Mit der nächsten Folge, die in der ersten Hälfte des neuen Jahres zu sehen sein wird, lässt Darstellerin Becker die Dauereiszeit des Hauptstadt-Krimis hinter sich. Dann bleibt Waschkes Karow allein mit seinem Matrosen zurück.
Bewertung: 7 von 10 Punkten
»Tatort: Die Kalten und die Toten«, Sonntag, 20.15 Uhr, Das Erste
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