Wie das Entsetzen beschreiben, das Gaël Hamon empfand, als er die Flammen über Notre-Dame lodern sah? Als Rauch zwischen den Zwillingstürmen der Kathedrale und aus dem Dach aufstieg und sich der Himmel rosarot färbte, während es allmählich Nacht in Paris wurde.
Irgendwann stürzte der hölzerne Vierungsturm, den der Architekt Eugène Viollet-le-Duc im 19. Jahrhundert hinzugefügt hatte, in die Tiefe und in Hamon, dem gelernten Steinmetz, stieg eine gewaltige Wut auf.
„850 Jahre lang ist es gelungen, Notre-Dame zu erhalten. Und ausgerechnet meine Generation hat es zu verantworten, dass die Kathedrale brannte. Ich konnte es nicht fassen.“
Am folgenreichsten war die Zerstörung des „Waldes“. So wurde der komplett verbrannte Dachstuhl aus 1300 Eichenstämmen genannt, die teils aus dem zwölften Jahrhundert stammten. Ein historischer Kulturerbe-Schatz, für immer verloren.
Brandursache bleibt ungeklärt
Was letztlich den Brand in der Nacht vom 15. auf den 16. April 2019 ausgelöst hat, bleibt weiterhin ungeklärt. Die Ermittlungen wegen fahrlässiger Brandstiftung laufen, die Behörden gehen von einem Unfall aus. War es ein glühender Zigarettenstummel von einem der Bauarbeiter, die tagsüber am Dachstuhl im Einsatz waren? Hatte es irgendwo einen Kurzschluss gegeben?
Bald kam heraus, dass der zuständige Wachmann an jenem Abend noch ganz neu und nicht eingearbeitet war. Er konnte den Auslöser für den Alarm zunächst nicht zuordnen und verlor eine wertvolle halbe Stunde, bis er die Feuerwehr rief. Aufgrund von Sparmaßnahmen gab es nur noch einen Sicherheitsbeauftragten vor Ort. „Es handelte sich um eine Verkettung unglücklicher Umstände“, sagt Hamon. „Aber es hätte nicht passieren dürfen.“
Wie sah das nochmal aus? Alte Fotos helfen
Verraucht ist sein Ärger auch nach drei Jahren nicht. Der Job des 51-Jährigen besteht darin, mit Mitteln der modernsten Technologie bei der Restaurierung und dem Wiederaufbau von Kulturerbe, meist alter Bauwerke, zu helfen. Dafür hat er vor 27 Jahren seine Firma „Art Graphique & Patrimoine“ (AGP), auf Deutsch „Grafische Kunst und Kulturerbe“, gegründet. Sein Team macht mithilfe von Laservermessung, also unter Anwendung von Laser-Scannern, und von Fotos Farbscans mit Milliarden digitalen Punkten von allen Oberflächen eines Bauwerks.
Die Fotos und Punktwolken werden später mithilfe von digitalen Programmen übereinander gelegt. Auf Basis dieser Daten sowie anhand von Bildern des früheren Zustands entsteht ein „digitaler Zwilling“ des Gebäudes mit all seinen Maßen. Dieser wird dann den an der Baustelle beteiligten Akteuren, von den Architekten bis zu den Bauunternehmen, zur Verfügung gestellt.
Bislang hat sich die Firma mit 33 Angestellten, darunter Ingenieuren, Archäologen, Topographen, Architekten, Entwicklern, Historikern oder Kunstwissenschaftlern, an der Restaurierung von rund 3000 Monumenten oder Kunstwerken beteiligt, darunter die Klosterabtei am Mont-Saint-Michel in der Normandie und das Schloss Versailles bei Paris.
Aber vor allem seit dem Brand von Notre-Dame geriet APG ins Scheinwerferlicht. „Uns hat diese Tragödie erlaubt, unsere Arbeit zu zeigen und auf die Bedeutung hinzuweisen, unser Kulturerbe zu pflegen“, sagt Hamon.
An der Wand eines Besprechungszimmers in seiner Firma im nördlichen Pariser Vorort Saint-Denis hängt ein sogenanntes Orthofoto des zerstörten Spitzturms in schwarz-weiß – vergleichbar mit einer „hoch präzisen Radiologie-Aufnahme“, erklärt Hamon das Prinzip dieser Darstellungsweise.
Noch in der Brandnacht rief er seine Mitarbeiter zusammen, um die Firmen-Archive nach Fotos und Daten von Notre-Dame zu durchsuchen. Sie wurden fündig und als am nächsten Tag der Präfekt von Paris anrief, um AGP mit dem Erstellen des „digitalen Zwillings“ zu beauftragen, legten sie sofort los.
Kurz darauf fand sich Hamon zwischen den Trümmerhaufen in der Kathedrale wieder. Zeit, um emotional zu werden, hatte er nicht, erzählt der energische Firmenchef. „Es ging darum, es anzupacken!“ Mithilfe von Drohnen kartierten seine Leute jeden Winkel des in Mitleidenschaft gezogenen Monuments.
Offiziell bleibt es beim Ziel 2024
Zeitlichen Druck baute der französische Präsident Emmanuel Macron auf, der nach dem Brand bei einer Fernsehrede versprach, Notre-Dame in nur fünf Jahren wieder aufzubauen – und zwar „noch schöner als vorher“.
„Wir schaffen das“, so Macron. Er wollte den schockierten Menschen und den Gläubigen in Frankreich Hoffnung geben, ohne wirklich einschätzen zu können, ob und wie ein so rasanter Aufbau machbar sei. Experten äußerten sich schnell skeptisch, Gaël Hamon hatte noch eine andere Idee: „Wäre es nicht toll gewesen, die Baustelle abzusichern und für das Publikum zu öffnen? Die ganze Welt wäre gekommen, um unser handwerkliches Können zu bestaunen.“
Vorbilder für solche begehbaren Baustellen gibt es bereits in Frankreich. Dann aber hätte alles noch viel länger gedauert.
Geliebtes Wahrzeichen, aber die Spenden reichten nicht
Doch offiziell bleibt es bei dem Ziel, dass Notre-Dame bis 2024, wenn in Paris die Olympischen Spiele stattfinden, wieder zugänglich ist. Bis 2019 zog der Kirchenbau auf der Seine-Insel Île de la Cité jährlich bis zu 13 Millionen Besucher aus der ganzen Welt an.
Der Brand erschütterte weit über die Landesgrenzen hinaus. Und in Frankreich schnellte Victor Hugos Klassiker „Der Glöckner von Notre-Dame“ auf Platz eins der Bestseller-Listen. An keinem ihrer Wahrzeichen hängen die Pariser wohl so sehr wie an diesem mittelalterlichen Kirchenbau, mögen sie gläubig sein oder nicht.
Es regnete Spenden und bis heute kamen insgesamt 842 Millionen Euro zusammen. Dennoch startete die Diözese nun einen neuen Spendenaufruf, denn die gesammelten Gelder reichten nicht für die Restaurierung des Innenraums. Es würden weitere sechs oder sieben Millionen Euro benötigt.
Zunächst aufgrund der hohen Bleibelastung und dann wegen der Corona-Pandemie kam die Baustelle mehrmals zum Stillstand. Auch zog sich die Phase der Konsolidierung und Absicherung des Bauwerks hin. Sie ist seit Herbst abgeschlossen, so dass die Restaurierung, beginnen konnte. Sprach sich Macron zunächst für einen „zeitgenössischen Touch“ aus, so steht inzwischen fest, dass Notre-Dame genau wie vorher wieder aufgebaut werden soll.
Das wollten sowohl die Kirchenvertreter als auch die Pariser und nicht zuletzt der Chefarchitekt Philippe Villeneuve. Dieser hatte sogar gedroht, die Arbeit niederzulegen, sollte das Aussehen der Kathedrale verändert werden. Von manchen Architektenbüros hervorgebrachte extravagante Ideen, wie ein Glasdach oder ein Dachgarten, setzten sich nicht durch.
Im Frühjahr wurden bei präventiven Ausgrabungen bemalte Skulpturreste aus dem 13. Jahrhundert und ein Bleisarg, der möglicherweise aus dem 14. Jahrhundert stammt, entdeckt.
Abschied von der Extravaganz
Parallel zur physischen Baustelle schreitet derweil eine digitale Baustelle in Form einer Online-Plattform voran, an der 175 Wissenschaftler arbeiten. Sie entstand rund drei Monate nach dem Brand am nationalen Forschungsinstitut CNRS unter Führung von Livio De Luca, selbst Architekt und Spezialist für digitale Forschung.
Die Beteiligten geben ihre Erkenntnisse und Datensätze ein und stellen diese in Echtzeit zur Verfügung. Dazu gehören alle Analysen der Materialien oder Details über den exakten Ort jedes kleinsten Bauelements. Archäologen, Chemiker, Ingenieure, Architekten können jederzeit darauf zugreifen. „Auf diesem Weg teilen die verschiedenen Teams der Baustelle ihre Expertise, um letztlich die besten Entscheidungen zu treffen“, sagt De Luca.
Der italienische Forscher zeigt ein Foto, das kurz nach dem Brand im Inneren der Kathedrale aufgenommen wurde. Es ist ein ergreifendes Bild der Zerstörung: Zwischen den hohen Säulen liegen Steine, verkohlte Balken, dazwischen Teile der Stuhlreihen. Der Altarraum erscheint intakt.
Viel Licht fällt in den Raum, denn zu diesem Zeitpunkt fehlte das Dach und die provisorische Bedeckung, die vor dem Regen der Folgetage schützen sollte, war noch nicht angebracht. „Einerseits sieht man die enorme Herausforderung“, beschreibt De Luca. „Andererseits sind so viele Elemente und Details zu erkennen, die man vorher nicht beobachten konnte. Das ist auch eine riesige Chance für die Forschung.“
Eine Chance für die Wissenschaft
Und noch eine Chance ergebe sich: Noch nie konnte man so viele Wissenschaftler aus ganz verschiedenen Feldern für ein gemeinsames Projekt mobilisieren. Dieses interdisziplinäre, digitale Ökosystem mit all den geteilten Informationen sei weltweit einzigartig.
Und man will noch weiter gehen, indem diese „Kathedrale des Wissens“, wie De Luca sie nennt, ab 2024 der gesamten Weltöffentlichkeit geöffnet wird. Jedes Unternehmen, das einen Film oder ein Videospiel mit den Informationen machen wolle, könne sich an dem Material bedienen.
Es gehöre der Allgemeinheit, sagt De Luca, genauso wie die alte Kathedrale allen gehört. Ein Kulturerbe der ganzen Welt.
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