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Missing Link: 50 Jahre heitere olympische Spiele – Die Technik - heise online

Missing Link: 50 Jahre heitere olympische Spiele – Die Technik

Detlef Borchers
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Olympiapark in München – Olympische Sommerspiele '72

(Bild: meunierd/Shutterstock)

Olympiade 1972 in München: Für Deutschland sollte es der Aufbruch in eine neue Zeit werden – in ein modernes, friedliches Deutschland. Es klappte nicht ganz.

Vor 50 Jahren liefen die Vorbereitungen für die olympischen Sommerspiele auf Hochtouren. München hatte den Zuschlag für ein Konzept bekommen, das in der Rekordzeit von gerade einmal 60 Tagen ausgearbeitet worden war. Neben der Idee der heiteren Spiele und dem "Olympia der kurzen Wege" spielte es eine wichtige Rolle, dass erstmals beide deutschen Staaten eine eigenständige Olympiamannschaft stellen konnten.

Dann war da noch Siemens, der Konzern, der fast die gesamte Technik für die Sommerspiele stellte. Vom Baustrom im Olympiapark über die Flutlichtanlage im Olympiastadion bis zu den medizinischen Geräten im Diagnostikzentrum und der U-Bahn, die zum Olympiapark führte, kam alles von Siemens.

Das Glanzstück waren die beiden Computersysteme, die installiert wurden, ein Wettkampfsystem mit direkter Dateneingabe bei allen Wettbewerben, das auch die Anzeigentafeln steuerte. Dazu kam ein Informationssystem mit 72 Dialogstationen, das Informationen über alle Teilnehmenden, alle Olympia- und Weltrekorde parat hatte. Diese Auskunftei wurde von 300 Hostessen betrieben und umfasste unvorstellbare 500 MByte.

Die Olympischen Sommerspiele 1972 waren von Anfang an ein Fest der Superlative. Das begann mit dem Entwurf des Olympiastadions [2], der Mehrzweckhalle und der Schwimmhalle durch das Architekturbüro Behnisch und Partner mit den berühmten Dächern, angeregt durch den deutschen Pavillon von Otto Frei [3] auf der Weltausstellung 1967 in Montreal. Der Legende nach wurde ein Damenstrumpf genutzt, das Dach im Modell zu visualisieren.

Die Superlative setzten sich im Olympiapark [4] fort, den Günther Grzimek entwarf. Noch bekannter wurde die graphische Gestaltung des gesamten Erscheinungsbildes der Spiele durch Otl Aicher [5]. Als "Gestaltungsbeauftragter" der Spiele verbot er kurzerhand die Farben Rot, Schwarz, Braun und Violett und setze auf hellblau, gelb, grün und Orange. "Es kommt weniger darauf an, zu erklären, dass es ein anderes Deutschland gibt, als es zu zeigen. Die Welt erwartet eine Korrektur gegenüber Berlin schon deshalb, weil sie seinem Einfluss zum großen Teil erlegen ist", schrieb Aicher, der im Umfeld der Geschwister Scholl [6] den Terror der Nationalsozialisten erlebt hatte.

Die sinnfälligste Abkehr von den faschistischen Spielen 1936 war wohl das von Aicher und Elena Winschemann entworfene Maskottchen der Spiele, der OlympiaWaldi [7]. Wobei angemerkt werden muss, dass bis heute die Rechtsanwälte des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) einschreiten, wenn der Original-Waldi ohne Lizenzgebühren benutzt wird. So musste vor kurzem ein Waldi neu gestaltet werden, weil das IOC die Rechte am Farbkonzept [8] für sich beanspruchte.

SOS – so nannte man das "Sonderteam Olympische Spiele" unter der Leitung von Martin F. Wolters, das für die Planung und Realisierung der Computertechnik zuständig war. Mit dem Bau des Olympiastadions entstand auch das Rechenzentrum, in dem das von Erwin Haslinger entwickelte Wettkampf-Computersystem untergebracht wurde. Es bestand aus drei Rechnern des System 4004 [9] (drei sogenannte 4004/45), wobei ein Rechner für den Dialogverkehr und der Datenausgabe, der andere für die Verarbeitung und Auswertung der eingegebenen Daten zuständig war. Der dritte Rechner lief zur Sicherheit im Stand-by-Betrieb mit.

Datenübertragung Olympia-Informationssystem Golym

(Bild: Siemens Historical Institute Berlin mit freundlicher Genehmigung)

Der Rechner für die Datenausgabe kommunizierte wiederum mit einem Siemens-Prozessrechner 301, der oben bei der Stadionregie stand und die beiden Anzeigetafeln im Stadion ansteuerte. Die "Anzeigepixel" der Haupttafel bestanden aus 25.000 Glühbirnen. Die Daten von 30 Sportstätten und 195 Disziplinen wurden über 203 Datenendgeräte, größtenteils Fernschreiber, eingegeben und ausgegeben. Als absolutes Novum bei den Olympischen Spielen wurden in der Schwimmhalle und an der Kajak-Wildwasserbahn in Augsburg durch installierte Longines-Sensoren die Messwerte über Prozessrechner direkt in das Wettkampfsystem eingespeist.

Im Olympiastadion selbst gab es 16 Terminals für die Eingabe der Mess- oder Zeitwerte und die Entscheidungen der Kampfrichter. Maximal konnten 5 Terminals gleichzeitig arbeiten. Im Rechenzentrum wurden die einlaufenden Daten zunächst auf Plausibilität überprüft und dann auf einen Plattenspeicher geschrieben.

Wettkampf-Rechenzentrum

(Bild: Siemens Historical Institute Berlin mit freundlicher Genehmigung)

Das ergab skurrile Situationen, wenn die Siegerzeit beim Schwimmen automatisch angezeigt wurde und Minuten später der Sieger – natürlich Mark Spitz. Die Ausgaben des Wettkampf-Systems liefen außerdem zu den Fernschreibern des Pressezentrums und zu den Nachrichtenagenturen sowie zu einer Digiset-Lichtsatzanlage [10] von der Kieler Firma Rudol Hell, auf der die Tageszusammenfassungen gedruckt wurden.

Für alle 195 Disziplinen hatten 100 Programmierer über 6000 Listendarstellungen zur Datenausgabe geschrieben, hinzu kamen 70 Programmierer, die die beschleunigte Datenverarbeitung in Assembler optimierten. Die Arbeiten am Wettkampfsystem liefen über 14 Monate und waren im September 1971 abgeschlossen.

Mit den Wettkampfdaten der Spiele in Tokio und Mexiko wurde dann der Wettkampfbetrieb simuliert. Einge hundert Fehler wurden entdeckt und beseitigt. Im Buch über die bei den Spielen gewonnenen Erfahrungen forderte Wolters analog zur Medizin die Einführung einer "Projekt-Pathologie" in die Datenverarbeitung. "Warum gibt es so wenige große Programme, die von Anfang an fehlerfrei laufen?"

Waren die Arbeite am Wettkampfsystem langwierig, so dauerten die Arbeiten an Golym noch viel länger. In dreijähriger Fleißarbeit wurden alle möglichen Daten gesammelt. Golym war das olympische Informationssystem auf der Basis von GOLEM (ein Akronym für "GroßspeierOrientierte Listenorganisierte ErmittlungsMethode") und im Kern eine moderne Datenbank. Golym war gewissermaßen das Aushängeschild von Siemens, um Journalisten und das allgemeine Publikum für die EDV zu begeistern – bei Siemens sprach man lieber von "automatischer Informationswiedergewinnung". 72 schicke Golym-Informationsstände [11] mit Lichtgriffel und Vektorgraphik, von 300 (größtenteils weiblichen) Hostessen bedient, standen mit vielfältigen Informationen zur Verfügung.

Olympia-Informationssystem Golym

(Bild: Siemens Historical Institute Berlin mit freundlicher Genehmigung)

Golym wurde laufend mit den Ergebnissen aus dem Wettkampfsystem gefüttert, aber auch mit Informationen, wie viele Eintrittskarten bei einer Disziplin oder Tageszeit noch verfügbar waren. Die Wettkampfergebnisse sämtlicher Olympischen Spiele der Neuzeit waren ebenso gespeichert wie die Leistungs- und Körperdaten, die Clubzugehörigkeit und privaten Hobbys aller Teilnehmer der Spiele.

Auch die Trainer und ihre Trainingsmethoden waren so erfasst und selbst die Daten über die 4000 akkreditierten Journalistinnen und Journalisten waren eingespeichert. Schließlich enthielt Golym die Regeln und Qualifikationsbestimmungen aller Sportarten, die in München ausgetragen wurden, Informationen über die Dopingkontrollen und, ganz wichtig, die Amateurbestimmungen des Internationalen Olympischen Komitees. Die Olympischen Spiele von 1972 waren die letzten, bei denen der Amateurstatus scharf überwacht wurde.

Golym-Stände gab es nicht nur im Olympiapark, sondern auch am Münchener Hauptbahnhof und am Flughafen, im Tiefgeschoss am Stachus und natürlich im Pressezentrum. Es gab eine Golym-Hotline mit 20 Telefonistinnen und eine Standleitung bis nach Kiel, wo die Segel-Wettbewerbe ausgetragen wurden. Golym wurde im zweiten Rechenzentrum gewartet und betrieben, in dem der eine Rechner ein 4004/45 und der andere ein 4004/46 war: Der 4004/45 wurde noch vom eigentlichen Rechner-Lieferant RCA gebaut (dort Spectra-70 genannt), der 1971 aus der Computerproduktion ausstieg.

Eines der letzten dieser Siemens-Geräte hatte die ostdeutsche Staatssicherheit über Dritte für ihre Schnüffelarbeit gekauft. Der 4004/46 war ein von Siemens in aller Eile entwickelter Klon. Die beiden Rechner steuerten über das Modem Transdata 8331 die 72 rund 10.000 D-Mark teuren Datensichtstationen Transdata 8150 [12] mit 54x20 Zeichen in Vektoranzeige an. Die Infokioske gestatteten es, durch Antippen der Deskriptoren mit dem Lichtgriffel einfache Fragen zu stellen wie die nach einem Olympiasieger im 100-Meter-Lauf, der NICHT US-Amerikaner ODER Brite ist. Die Ausgabe sah dann so aus:

Die Ausgabe einfacher Abfragen.

(Bild: Siemens Historical Institute Berlin mit freundlicher Genehmigung)

Damit waren die Spiele von 1972 die ersten, in denen Journalisten oder auch die Stadionsprecher einen Informationsvorsprung gegenüber den Zuschauern im Stadion, der Schwimmhalle oder an einer Rennstrecke hatten. Glaubt man eine der vielen Geschichten, die sich um Olympia ranken, so war das System ausgelastet, als die völlig unbekannte Ulrike Meyfarth sich die Goldmedaille im Hochsprung holte und den bestehenden Weltrekord egalisierte.

Auch gab es Abfragen, als beim abschließenden Marathon ein unbekannter Läufer mit der Nummer 72 im Stadion auftauchte: Der erste Blitzer der Sportgeschichte klaute dem Sieger Frank Shorter mit der Startnummer 1014 den Sieg. Aber das ist eine andere Geschichte. Sie wird im zweiten Teil des Missing Link erzählt.

Technik für Olympia 72 (© Siemens Historical Institute Berlin mit freundlicher Genehmigung) [13]


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[1] https://www.heise.de/thema/Missing-Link
[2] https://www.architekturmuseum.de/ausstellungen/die-olympiastadt-muenchen/
[3] http://www.freiotto.com/Netzkonstruktionen.html
[4] https://journals.ub.uni-heidelberg.de/index.php/icomoshefte/article/download/84609/78961
[5] https://www.youtube.com/watch?v=JZSajtrVxo0
[6] https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-Sophie-Scholl-und-die-Erinnerung-6041734.html
[7] https://olympics.com/en/olympic-games/munich-1972/mascot
[8] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-dackel-marienplatz-olympia-72-1.5604454
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Siemens_System_4004
[10] https://www.hell-kiel.de/de/hell-entwicklungen/satztechnik
[11] https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Computer_Golym_der_Siemens_AG_(Kiel_50.823).jpg
[12] http://www.argus.bstu.bundesarchiv.de/BStU_MfS_Abt-26/index.htm?kid=58e71e83-8930-4fb6-b062-2b66ee997f91
[13] https://www.heise.de/downloads/18/3/5/7/2/5/9/5/Technik_fuer_Olympia_72.pdf
[14] mailto:bme@heise.de

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