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Marcel Proust zum 150. Geburtstag - WELT

Natürlich ist es amüsant. Vor allem aber mokant und medisant. Selbstverständlich hat es auch hinreißende Stellen, vorzugsweise wenn in Eleganz und Erinnerungsseligkeit geschwelgt wird. Und scharfsinnig ist es außerdem, in einem soziologischen, in einem psychologischen und nicht zuletzt in einem erkenntnistheoretischen Sinne. Aber sonst? Sonst und über weite Strecken ist „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (auf Französisch „À la recherche du temps perdu“), jener Monumentalroman, dessentwegen wir heute Marcel Proust als Kultfigur verehren, eine sperrige Angelegenheit. Noch dazu versteht es kein Mensch, der nicht die Verästelungen der Geschichte Frankreichs kennt.

Eine Kathedrale sollte es sein, dieses Buch, gemäß dem Willen seines Schöpfers, bestehend aus sieben Teilen. Ein riesiges Gebäude, in dem man von Kapelle zu Kapelle schreitet, herrliche Malereien und Skulpturen bestaunt, dabei immer die Grundrisse der Architektur, ihre Stützpfeiler, Bögen, Glasfenster im Blick. Schon recht, nur hat der Meister leider das Baugerüst stehen gelassen. So befand André Gide bei seiner zweiten ausgedehnten Lektüre der „Recherche“ im Jahre 1938. Prousts großer Antipode, der französische Geistesguru bis zum Auftreten von Sartre, hatte immer mit dem Buch, seiner Weitschweifigkeit, seinen Redundanzen, seinen Wiederholungen gehadert.

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Doch was soll uns Gides Gerüst-Metapher sagen? Man versteht sie nur, wenn man über die ersten, noch ganz und gar meisterlichen Partien wie „Combray“ oder „Eine Liebe von Swann“ hinausgelangt ist. Was nur wenige Leser tun. Denn die „Recherche“, wie sie allgemein unter Kennern (und solchen, die es zu sein vorgeben) genannt wird, stellt wahrscheinlich das meistgepriesene Werk der Weltliteratur dar, das kaum jemand zu Ende gelesen hat.

Matineen und Soireen

„Im Schatten junger Mädchenblüte“ (nach heutiger Zählung der zweite Teil) mag, des hübschen Titels wegen, noch manche geneigte Leserin, mancher willige Leser in Angriff genommen haben. Aber spätestens wenn man Matineen und Soireen bei den diversen Marquisen, von denen selbstredend eine vornehmer ist als die andere, nicht mehr auseinanderhalten kann, Matineen und Soireen, die endgültig im dritten Teil der „Recherche“, genannt „Die Welt der Guermantes“, die Überhand gewinnen, spätestens dann kapituliert der „common reader“. Was schade ist, denn richtig interessant wird es dann ja (mit langen Unterbrechungen abermals durch stehen gebliebene Baugerüste) wieder in Partie Numero vier. Die trägt den verheißungsvollen Titel „Sodom und Gomorra“. Und ist auch danach. Enthält zum Beispiel die abgründigste Typologie des homosexuellen Mannes, die je geschrieben wurde. Aber das lassen wir jetzt mal auf sich beruhen.

Denn vorher „riecht es“ über Aberhunderte von Seiten hinweg erst einmal sehr „nach Herzoginnen“. So hieß es mit schöner branchenüblicher Respektlosigkeit zunächst beim Verlag Gallimard. Das war schon zu Prousts Zeiten die erste literarische Adresse in Frankreich. Und natürlich wollte der Autor sein Opus magnum dort veröffentlichen. Aber bei Gallimard war man auf literarische Schwergewichte abonniert. Marcel Proust jedoch galt als Leichtgewicht. Als ein zwar charmanter, aber eben auch ein wenig halbseidener Gesellschaftslöwe, na ja, Gesellschaftsschoßhündchen.

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Dieses Bürschle platzierte hin und wieder Artikel im „Figaro“, immer kenntnisreich und kultiviert, aber eben doch angerührt mit sehr viel Zuckerwasser. Geschichten von teuren Bestechungsgeschenken für Chefredakteure taten ihr Übriges. Kurzum, Gallimard lehnte die Veröffentlichung der „Recherche“, die damals nur etwa ein Drittel ihres späteren Umfangs von reichlich 4000 Seiten besaß, ab. Ohne auch nur einen Blick ins Manuskript zu werfen, wie böse Zungen (angefangen bei Proust selbst und seiner Haushälterin) behaupteten. Dabei hatte der Meister das Konvolut in besonders feines und reich parfümiertes Seidenpapier schlagen und ganz zauberhaft verschnüren lassen. Aber vielleicht hat ihm gerade das geschadet?

Der „Code Combray“

Wie auch immer: Proust machte dann eine echte Persönlichkeitsveränderung durch. Er setzte die Droge mondänes Leben eines Tages einfach ab. Er hatte nun genug gesehen. Und alle Illusionen hinsichtlich der Guermantes verloren, dieser Adelsfamilie, die sich so viel darauf zugutehielt, im Laufe ihrer tausendjährigen Geschichte vierzehnmal mit dem „Haus Frankreich“ verschwägert gewesen zu sein. Proust hingegen war wieder beim „Code Combray“ angelangt. So nennt es sein einfühlsamster Biograf André Maurois, der auch das Diktum prägte, die „Recherche“ sei „das schönste Buch der Welt“.

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Gemeint ist mit dem „Code Combray“ jenes Fundament der Redlichkeit und des Herzenstaktes, welches das gutbürgerliche Milieu kennzeichnet, aus dem Proust stammt: französische Provinzbourgeoisie. Die kannte durchaus auch ihre Distinktionsrituale, aber Snobismus verabscheute sie. Und fand es auch ein bisschen deklassierend, wenn man sich allzu sehr mit reichen Leuten einließ: Man war sich selbst genug mit seiner Bildung und einem Wohlstand, der ohne Angebergehabe auskam. Dahin kehrte Proust also glücklicherweise mental zurück. So nett es im Faubourg Saint-Germain, so lustvoll es in Sodom auch gewesen war. Mal muss halt Schluss sein mit Allotria. Der Mensch will irgendwann auch etwas leisten.

Das Urbild von Combray, die kleine Stadt Illiers, Prousts Kindheitsparadies, aus dem die Familie seines Vaters stammte
Das Urbild von Combray, die kleine Stadt Illiers, Prousts Kindheitsparadies, aus dem die Familie seines Vaters stammte
Quelle: picture alliance / Photo12/Archives Snark

Dieser Weg war sicher auch seiner Krankheit geschuldet. Denn Proust litt schon als Kind an Asthma. Er ahnte, dass er nicht lange leben würde (51 Jahre wurden es dann immerhin). Und der literarische Ehrgeiz hatte ihn gepackt. Nun begann sein Rückzug in ein Eremitendasein, das oft beschrieben worden ist: Strenge Exerzitien im Bett, das in einem mit Korktafeln als Lärmschutz ausgekleideten Zimmer seiner riesigen Wohnung am Boulevard Haussmann stand, bestimmten jetzt den Tagesablauf. Der sich überwiegend auf die Nacht verlagerte. Monsieur aß nichts, schlief nicht, nahm (nach dem Vorbild des ihm immer gegenwärtigen Kollegen Balzac) viel Kaffee zu sich und schrieb, schrieb, schrieb. So will es die Legende. Und so war es wohl auch. Ausflüge ins gesellschaftliche Leben, Treffen mit alten Freunden blieben die Ausnahme und dienten offenbar vor allem dem Recherchieren für die „Recherche“.

Zu lang schwer krank

Irgendwann konnte Marcel dann zu besagter Haushälterin, die längst sein Lebensmensch geworden war, sagen: „Céleste, ich habe das Wort ,Ende‘ geschrieben.“ Aber natürlich war dieses Finis operis nicht das Ende. Die zahllosen Klebezettel an den Druckfahnen, über denen er buchstäblich bis zur Stunde seines Todes saß, zeugen von einem immerwährenden work in progress, aber eben auch vom Baugerüst, das er nicht mehr abzutragen vermochte. Zu lange war er nun schon schwer krank gewesen.

Jedoch, oh Wunder, das schadete den Bänden der „Recherche“ in keiner Weise. Als sie nämlich in rascher Folge während der Zwanzigerjahre erschienen, hatte sich das Blatt gewendet. Einerseits hatte Proust inzwischen den Nimbus eines ernst zu nehmenden, unermüdlichen Arbeiters im literarischen Weinberg des Herrn erworben. Andererseits war eine Welt untergegangen. Mit den Hekatomben von Toten, die der Erste Weltkrieg gefordert hatte, war auch jene Belle Époque zu Grabe getragen worden, deren letzte Leuchtfeuer Proust mit so suggestiver Virtuosität beschreibt. Zudem lebte man, verglichen mit einst, in Armut. Die Spanische Grippe verheerte weiterhin Existenzen. Das „Zeitalter der Sekurität“, wie Stefan Zweig es nannte, schien jedenfalls dahin.

Behütet aufgewachsen: der kleine Marcel (rechts) mit seinem noch kleineren Bruder Robert
Behütet aufgewachsen: der kleine Marcel (rechts) mit seinem noch kleineren Bruder Robert
Quelle: picture-alliance / Mary Evans Picture Library

Jetzt ließ sich die „Recherche“ als Thesaurus verschwundener Lebensformen lesen. In Europa waren die Lichter ausgegangen. Aber hier konnte man nostalgisch seine Strahlen noch einmal aufsaugen – und geriete man dabei auch in eine submarine Welt unheimlicher Wasserwesen und Verkrustungen, als die Proust in einer der glanzvollsten Passagen des gesamten Buches, der Galavorstellung in der Oper zu Beginn des dritten Bandes, den Flor der Pariser Edelwelt erstarren ließ. Und bekam nun nicht auch die reaktionäre Attitüde jener Kreise, die es dem Erzähler lange Zeit so sehr angetan hatten, ihren tieferen Sinn?

Nicht stiftsfähig

Diese Damen und Herren von Geblüt, die auch unter der Dritten Republik noch lange stilbildend geblieben waren, hielten das „Haus Frankreich“ schlichtweg nicht mehr für „stiftsfähig“ (also für hochadelige Damenstifte nicht mehr zugelassen), weil es sich im 16. Jahrhundert mit den Medici eingelassen hatte. Sie standen außerdem auf dem Standpunkt: „Einem Orléans gibt man nicht die Hand“, womit nicht zuletzt die Julimonarchie in Acht und Bann getan wurde (Ausnahme: der Herzog von Aumale in Chantilly, der sammelte ja Kunst; sein Schloss beherbergt noch heute die größte Sammlung alter Meister nach dem Louvre – ein Traum!). Und alles, was mit „Monsieur de Buonaparte“ eins und zwei zusammenhing, war sowieso indiskutabel.

So hatte man in der „Welt der Guermantes“ gedacht, und Proust hatte es in extenso übermittelt. Aber dieses Treiben in den allfälligen und adorierten Salons konnte der Leser nach der Epochenzäsur von 1918 als eine Fortsetzung von Schilderungen lesen, die mit Balzac und Hugo ihren Einzug in die französische Literatur gehalten hatten. Es wurde Teil jenes riesigen „Antiquitätenkabinetts“, zu dem die französische Gesellschaft durch die häufigen Regimewechsel des 19.Jahrhunderts geworden war.

„Das Antiquitätenkabinett“, dieser kleine Roman von Balzac, stellt einen der wenigen Referenztexte der „Recherche“ dar, der, anders als Racines Tragödien, die Briefe der Madame de Sévigné oder die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon mal nicht aus dem französischen „grand siècle“ stammen. Er führt eine Gruppe von royalistischen Ultras vor, die aus der Zeit gefallen sind, abseitsstehen und einfach weitermachen wie bisher.

Zurück in die Vitrine

Das blieb auch im 20. Jahrhundert, das noch ganz andere Verwerfungen kennenlernen sollte, eine große Utopie. Und heute ist sie es erst recht. Auf diese Weise konnte auch Marcel Proust bis heute seine Beliebtheit bewahren, sogar ausbauen. Denn er ist und bleibt der Schöpfer des größten Antiquitätenkabinetts, das die Weltliteratur kennt. Je schnelllebiger und – dies vor allem – je unästhetischer unsere Gegenwart geworden ist, desto verzehrender wurde und wird auch die Sehnsucht nach den Antiquitätenkabinetten. Diese Sehnsucht stillt kein Schriftsteller so umfassend wie Proust.

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Aber Vorsicht! So sehr er Gegenstände und Figuren aus den Kabinetten liebte, so gern er sie hervorzog und in schmeichelhafter Beleuchtung hin und her drehte: Irgendwann stellte er sie doch zurück in die Vitrine. Denn er wusste: Auch sie sind letztlich nicht das Wahre. Wahr ist nur, was wir durch das Denken neu erschaffen. Der Geist. Die Kunst. La „Recherche“.

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